Organspende: Berliner Medizinstudierende kämpfen gegen Vorurteile
In Deutschland werden heute deutlich weniger Organe gespendet als noch vor zehn Jahren. Das muss sich ändern, finden Vivien, Maj und ihre Mitstreiter vom Projekt „Aufklärung Organspende“. Die Medizinstudierenden aus Berlin gehen auf Schüler und Erwachsene zu, die das Thema aus Angst oder Bequemlichkeit meiden.
Auf der Warteliste von Eurotransplant stehen aktuell mehr als 14.000 Patienten. Die meisten brauchen eine Niere, eine Leber oder ein Herz. Doch im vergangenen Jahr wurden in den acht Eurotransplant-Ländern lediglich 8.800 Organe verpflanzt, Lebendspenden eingerechnet. Ein Grund, warum viele Kranke vergebens warten: In Deutschland nehmen deutlich mehr Menschen ihre Organe mit ins Grab als anderswo. Auf eine Million Einwohner kommen hierzulande nur elf postmortale Organspender; in Österreich sind es doppelt so viele, in Kroatien mit 37 Spendern sogar mehr als drei Mal so viele.
Das hat zum Teil mit überlasteten Kliniken in Deutschland zu tun, die eine aufwändige Entnahme nicht immer organisieren können. Die Krankenhäuser sollen nach dem Plan der Bundesregierung darum entlastet werden (siehe Box). Aber auch die Spendenbereitschaft spielt eine Rolle: Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bewerten zwar 84 Prozent der deutschen Bevölkerung Organspenden positiv, doch nur 39 Prozent haben ihren Willen in einem Organspende-Ausweis oder einer Patientenverfügung dokumentiert. „Man muss sich aktiv mit dem Thema auseinandersetzen, aber das tun noch zu wenige“, sagt Vivien Giszas von der studentischen Arbeitsgruppe Aufklärung Organspende an der Berliner Charité. „Die Informationsarbeit der Bundesregierung reicht aus unserer Sicht nicht aus. Wir wollen darum als Medizinstudierende unseren Beitrag leisten.“
Mehr Geld für Entnahme-Kliniken?
2018 spendeten laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) bundesweit 955 Verstorbene ihre Organe. Damit stieg die Spenderzahl zum ersten Mal seit einigen Jahren wieder an. Die DSO führt das vor allem auf einen höheren Einsatz der Entnahmekliniken zurück. Die DSO-Koordinierungsstelle erhielt deutlich mehr Organspende-Meldungen als im Vorjahr. Diesen positiven Trend will die Bundesregierung mit einem aktuellen Gesetzentwurf unterstützen: Unter anderem sollen Kliniken mehr Geld dafür erhalten, dass sie Entnahmen organisieren.
Kein moralischer Druck
Bis zu zehnmal im Semester fahren zwei Gruppenmitglieder zu weiterführenden Schulen in Berlin und im Umland, um Vorträge zu halten. Klassen der Stufen acht bis zehn erhalten Informationen zu wichtigen Fragen: Was bedeutet es eigentlich, wenn ein Patient hirntot ist? Wie läuft eine Organspende genau ab? Die Medizinstudierenden wollen niemanden bekehren: „Wir klären neutral auf und vertreten keine bestimmte politische Position“, sagt Maj Hildebrandt, wie Vivien im sechsten Semester und seit eineinhalb Jahren in der AG aktiv. „Wir wollen die Menschen so informieren, dass sie eine eigene Entscheidung treffen können.“ Bei Schülern und Lehrern komme die Aufklärungsarbeit gut an, so die Studentin. „Nur wenige haben Vorbehalte. Meist sind das dann diffuse Ängste: dass man zum Beispiel leichtfertig für hirntot erklärt wird oder bei der Entnahme etwas spürt. Diese Sorgen konnten wir mit unseren Informationen bislang immer ausräumen.“
„Viele Menschen sind immer noch verunsichert wegen des Organspendeskandals, der vor ein paar Jahren bekannt wurde. Vielen ist nicht bewusst, dass es hierbei um die Zuteilung der Organe ging – auf der Empfängerseite, nicht auf Seite der Spender.“
Vivien Giszas
Härter verlaufen die Diskussionen hin und wieder mit Erwachsenen, die das Team an Infoständen bei Veranstaltungen in Berlin anspricht. Zuletzt zum Beispiel auf dem Weihnachtsmarkt an der Spree: „Viele Besucher haben die aktuelle politische Debatte um das Thema Widerspruchslösung kommentiert. Die einen fanden den Vorschlag gut, dass man automatisch als Organspender gilt, falls man selbst oder die Angehörigen nicht widersprechen. Andere waren strikt dagegen – sie würden sich dadurch entmündigt fühlen“, erzählt Vivien. Aufklärung, sagt sie, bleibe wichtig, selbst wenn eines Tages die Widerspruchslösung käme. „Schließlich muss man sich so oder so entscheiden“, meint Maj. „Viele Leute wissen auch gar nicht, dass man sich zum Beispiel heute schon im Organspende-Ausweis zum Nicht-Spender erklären kann.“
Infostand auf dem "Heissa" Weihnachtsmarkt an der Berliner Holzmarktstraße
Foto: privat
Mhmm! Selbstgebackene Organkekse für die Weihnachtsmarkt-Aktion
Foto: privat
Den eigenen Willen dokumentieren: Es ginge einfacher
Fast jeder, der einen der Infostände besucht, nimmt dann auch einen Organspende-Ausweis mit. Geht es nach Maj und Vivien, müssten die Vordrucke allgemein leichter zugänglich sein, beispielsweise an Schulen, in Arztpraxen, Apotheken oder Ämtern verteilt werden. Kaum bekannt seien auch Alternativen wie die Notfallinformation im Smartphone. „Noch einfacher wäre ein zentrales Register. In anderen Ländern gibt es eine Angabe zur Organspende im Führerschein oder im Personalausweis“, erklärt Vivien.
Die drei Berliner Lokalgruppenleiterinnen Vivien Giszas, Anna Speth und Maj Hildebrandt (von links)
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Für Kommilitonen an der Charité und Interessierte aus anderen Fachrichtungen organisiert die AG alle zwei Wochen Expertenvorträge, etwa zu Hirntoddiagnostik, Herztransplantation und Organhandel. In diesem Jahr will die Gruppe zudem erstmals Lehrerfortbildungen anbieten und ist dazu bereits in Kontakt mit der Berliner Senatsverwaltung für Bildung. Maj und Vivien sind überzeugt, dass sie später im Beruf von ihrem Organspende-Wissen profitieren werden. Obwohl sie sich nicht auf Transplantationsmedizin festlegen möchten, sondern auch für Innere Medizin und Kinderheilkunde interessieren. „Auch in diesen Fächern hat man mit dem Thema oft zu tun“, sagt Maj. „Wir werden auf jeden Fall Patienten betreuen, die Spenderorgane brauchen.“
Die Arbeitsgruppe Aufklärung Organspende an der Berliner Charité besteht seit 2014 und ist die Keimzelle des gleichnamigen bundesweiten Projekts der Bundesvertretung der Medizinstudierenden. Die über 20 Lokalgruppen arbeiten zusammen, wenn es sich anbietet. Etwa waren die Studierenden 2018 bei der Tournee des Komikers Eckart von Hirschhausen mit einem Infostand vertreten und teilten sich die Arbeit an den verschiedenen Spielorten auf.
Aufklärerinnen mit Dr. Eckart von Hirschhausen am Rande seiner Liveshow „Endlich!“
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