30 Jahre Knast
Joe Bausch spielt seit 20 Jahren den Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im "Tatort" aus Köln. Anders als viele Kollegen am Set ist der Mann vom Fach - zwar kein Facharzt für Gerichtsmedizin, aber Allgemeinmediziner. Als solcher arbeitet er schon seit 30 Jahren als Anstaltsarzt in Gefängnissen, 20 davon in der Justizvollzugsanstalt in Werl. Im Interview erzählt Bausch, was den Knastalltag vom TV-Set unterscheidet - und warum er Parallelen zum Boxen sieht.
Sie kommen gerade vom „Tatort“-Set. Was für eine Szene haben Sie gedreht?
Na, was soll ich schon drehen? Wenn ich spiele, gibt es eine Leiche, und ich muss erklären, woran der Mensch gestorben ist. Ich habe das Gefühl, ich werde im „Tatort“ eigentlich nur in einer einzigen Haltung gezeigt: neben einer Leiche kniend.
Eigentlich sind Sie gar kein Facharzt für Gerichtsmedizin, sondern Allgemeinmediziner....
Das ist auch gut so. Wenn ich vom Fach wäre, könnte ich das in Teilen gar nicht spielen. Mein Sachverstand würde mir immer sagen: Das geht doch nicht. Was man laut Drehbuch zu bestimmten Zeitpunkten schon über eine Leiche weiß, ist der Dramaturgie geschuldet und hat oft mit Rechtsmedizin wenig zu tun. Wenn es ziemlich daneben war, kommen schon manchmal kritische Anrufe aus dem Kollegenkreis: Wir haben mal eine Szene gedreht, in der es einen Zwischenfall bei einer Operation gab und ein Arzt sagte: „Holen Sie mir bitte einen Anästhesisten!“ Nach der Ausstrahlung rief mich ein Chefarzt einer großen deutschen Klinik an und sagte: „Das müssen Sie richtigstellen! In Deutschland gibt es keine Operationen, bei denen kein Anästhesist im Saal ist.“
Wie viel hat das fiktionale Verbrechen mit der Realität zu tun, die Sie seit 20 Jahren als Anstaltsarzt in der Justizvollzugsanstalt Werl erleben?
Verbrechen, wie ich es erlebe, ist in der Regel banal. Menschen bringen einander um aus nichtigem Anlass. Nichts, was langer als drei Minuten fur eine fiktionale Geschichte taugen wurde. Das, was wir uns furs Fernsehen ausdenken – Motive, subtile Hintergrunde, falsche Spuren –, ist in echten Kriminalfallen selten. In der Realitat bringen junge Manner aus prekären sozialen Verhältnissen andere junge Manner aus ebensolchen Verhältnissen um. Klar, es gibt die Hoenesse und Middelhoffs, die jeder kennt. Aber von den über 80.000 Menschen, die momentan in Deutschland einsitzen, sind das die wenigsten. Im Knast trifft man nicht viele Ärzte, Apotheker oder Banker. Schauspieler schon eher.
Sie schildern in Ihrem Buch den Moment, als Sie 1987 zum ersten Mal ins sogenannte Lazarett der JVA Werl kamen...
Das war alles ziemlich aus der Zeit gefallen. Allein das Wort: Lazarett! Auch die Medizin war defizitär. Die Patienten mussten sich vieles erstreiten, Dauermedikationen etwa oder eine psychotherapeutische Behandlung. Das war auch gewollt, nach dem Motto: Die Insassen haben es nicht anders verdient. Es hat viel Überzeugungsarbeit gekostet, das zu andern. Und es gab einige Mitarbeiter, die gekündigt haben, weil sie den Weg mit diesem neuen Arzt nicht mitgehen wollten.
Ein passionierter Arzt und Schauspieler: Joe Bausch geboren 1953 auf einem Bauernhof im Westerwald, ist leitender Regierungsmedizinaldirektor an der JVA Werl. Seit den 1980er Jahren spielt er außerdem Theater und ist in zahlreichen TV-Formaten zu sehen. Sein Tatort-Debüt gab er 1985 an der Seite von Götz George. Zur Medizin kam Bausch nach einem kleinen Umweg: Zunächst hatte er Theaterwissenschaften, Politk, Germanistik und Jura studiert. In seinem Buch "Knast" (Ullstein, 9,99 Euro) schildert Bausch seinen Alltag in der Anstalt.
Sie waren den Beamten zu nett.
Nicht zu nett, sondern zu ärztlich. Ich mache ja keine Gefälligkeitsmedizin. Es gibt feine Leitlinien, und an denen gehe ich entlang. Zum Beispiel gibt es das Äquivalenzprinzip: Haftlinge sind so zu behandeln wie gesetzlich Krankenversicherte. Und es gibt eine Garantenpflicht: Wir müssen garantieren, dass die Gefangenen nicht aufgrund ihrer Unterbringung gesundheitlich dauerhaften Schaden nehmen. Das sind die beiden grossen Pfeiler der Anstaltsmedizin – und nichts anderes habe ich immer gemacht.
Hatten Sie nie Probleme, Ihren hippokratischen Eid bei Mördern einzuhalten?
Wenn du anfangst, die Qualität der Medizin abhängig zu machen von dem, was ein Mensch getan hat, gehörst du nicht in den Knast. Ich bin nicht der Henker,verstehen Sie? Ich bin auch nicht die Heilige Inquisition. Als ich im Knast angefangen habe, habe ich mir eine Metapher ausgedacht: Ich bin wie der Ringarzt beim Boxen. Das Eingesperrtsein, die mangelnde Intimität, die Perspektive, hier 20 Jahre zu sitzen – das durchzustehen, ist für Häftlinge harter Kampf. Es geht nicht um Mitleid: Dass sie hier sind, dafür haben die Gefangenen selbst bei mehr oder weniger klarem Verstand gesorgt. Aber ich bin der Ringarzt. Wenn ich merke: Jetzt wird es unfair, jetzt kann er nicht mehr richtig kämpfen, muss ich das Handtuch werfen können. Umgekehrt muss jeder der Beteiligten sagen dürfen: Hey Doc, ich brauche mal ’ne Auszeit, zum Beispiel einen Tag ohne Arbeit.
Was sind denn die Hauptkrankheiten im Knast?
Körperlich geht es viel um Hepatitis, HIV, langjährige Drogengeschichten. Es gibt auch viele Schwerkranke, Dialyse-Patienten zum Beispiel. Aber ohne dass du Bock auf Psychiatrie hast, kannst du im Knast nicht überleben. Knastdepressionen sind sehr häufig. Die Frage ist immer: Wann wird das behandlungsbedürftig?Und was kann man tun? Wir würden ja nie einen Morder aus der Haft entlassen, nur weil er im Knast depressiv geworden ist. Dann kann er Medikamente nehmen, aber er bleibt da.
In "Knast" berichten Sie über die seltsamsten Fälle. Ein Patient forderte von Ihnen zum Beispiel mal einen Hammer zum Totschlagen der Zeit. Ein Buddhist wollte, dass Sie seinen Wunsch unterstützen, ein tibetisches Zwerghuhn in der Zelle zu halten. Sind Häftlinge im Schnitt verrückter als die Patienten draußen?
Im Knast ist es so: Die Leute langweilen sich. Draußen gehst du eher nicht zum Arzt, wenn du einen Witz machen willst. Im Knast vielleicht schon. Wir lachen auch gerne im Gesundheitszentrum. Und am liebsten lachen wir mit unseren Patienten – auch wenn die manchmal einen sehr speziellen Humor haben. Es hat damals eine Weile gedauert, sich daran zu gewöhnen. Ich hatte im ersten Jahr fast 120 Beschwerden und Strafanzeigen: wegen versuchten Mordes, unterlassener Hilfeleistung – alles, was man sich denken kann. Ich dachte: Was ist denn hier los? Das war aber nur, um mich abzuchecken. Bleibt der in der Spur oder knickt der ein, wenn der Wind bläst? Immerhin kamen auf jeden, der mich angezeigt hat, einer oder zwei, die mir signalisiert haben: Bitte bleiben Sie, Doc!
Wie geht es weiter, wenn Sie nächstes Jahr im November in den Ruhestand gehen?
Vielleicht steige ich in eine Arztpraxis ein, mit normalen Patienten.Mal sehen, wie weit ich dem Knast noch verbunden bleibe. Wir haben ja riesige Probleme, Nachwuchs zu gewinnen. Die JVA-Leitung ist sogar so weit gegangen, für den Job mit meinem Gesicht in der „Ärzte Zeitung“ zu werben. Immerhin haben sich da sage und schreibe 22 Interessenten gemeldet. Viele davon dachten vermutlich, sie könnten damit auch die Nachfolge von Dr. Roth im „Tatort“ antreten.
Dieses Gespräch ist eine gekürzte Fassung des Interviews, das in der Ausgabe 02/2017 von Richard erschienen ist, dem Print-Magazin der apoBank.