Wie Gendermedizin das Studium verändert
Weiblich, männlich, divers – abhängig von ihrem Geschlecht werden Menschen unterschiedlich krank und erhalten nicht immer die richtige Therapie. An deutschen Hochschulen spielt Gendermedizin bislang keine große Rolle, doch das ändert sich allmählich. Was Studierende erwarten können, erklärt Professorin Dr. Sabine Oertelt-Prigione. An der Universität Bielefeld baut sie aktuell die Arbeitsgruppe „Geschlechtersensible Medizin“ auf.
Wenn in den Medien von Gendermedizin die Rede ist, geht es meistens um Probleme weiblicher Erkrankter. Um die Herzinfarktpatientin, deren Symptome falsch gedeutet werden. Die Autofahrerin, die einen Unfall verursacht, weil sie am Vorabend ein zu hoch dosiertes Schlafmittel eingenommen hat. Oder um die junge Mutter mit vermeintlichem Burnout, bei der die Antibabypille eine Depression auslöst. Gendermedizin ist aber kein Thema, das nur Frauen betrifft. „Wir richten den Blick auf den einzelnen Menschen und seine Besonderheiten“, betont Sabine Oertelt-Prigione. Blinde Flecken in Diagnostik und Therapie gibt es auch bei männlichen Patienten. Zum Beispiel könnte die deutlich höhere Selbstmordrate bei Männern darauf hinweisen, dass Depressionen oft unerkannt bleiben.
Manchmal drängt es sich aber geradezu auf, die Geschlechter zu differenzieren. Aktuell geschieht dies in der Forschung zu Covid-19: Warum Männer häufiger schwer an Corona erkranken als Frauen, beschäftigt die Wissenschaft schon seit Beginn der Pandemie. Hormone scheinen dabei eine Rolle zu spielen, aber möglicherweise auch eine ungesündere Lebensweise männlicher Patienten.
Sabine Oertelt-Prigione, Foto: Universität Bielefeld
Es kommt auf die Lehrperson an
Im Medizinstudium ist eine gendersensible Perspektive allerdings noch nicht üblich. Anatomie, Krankheitsbilder, Therapien – bei den Grundlagen steht meist der männliche Körper im Zentrum. Dieses Manko nehmen deutsche Hochschulen durchaus wahr. „In letzter Zeit ist das Interesse an der Thematik stark gewachsen, auch durch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs rund um Sexismus“, sagt Oertelt-Prigione. „An den medizinischen Fakultäten hängt allerdings noch sehr viel von Einzelpersonen ab, die entscheiden, ob sie Genderaspekte in ihren Lehrveranstaltungen aufgreifen. Was fehlt, ist die Institutionalisierung.“ Die Expertin erwartet, dass sich in den nächsten Jahren einiges bewegen wird. Erst kürzlich erschien eine Neufassung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs für die ärztliche Ausbildung. Darin nehmen sich die Medizinischen Fakultäten unter anderem vor, Erkrankte individueller zu betrachten. Merkmale wie Geschlecht, Kultur oder der soziale Kontext sollen in der Ausbildung mehr Gewicht erhalten.
Aufbauarbeit in Bielefeld
An der Berliner Charité ist die Gendermedizin mit einem eigenen Institut bereits präsenter als an anderen Studienorten. Diesem Vorbild folgt die Universität Bielefeld auf ihre Weise. Die frisch berufene Professorin Sabine Oertelt-Prigione hat früher selbst an der Charité gelehrt und daran mitgewirkt, Genderthemen im Curriculum zu verankern. An der neu gegründeten Medizinischen Fakultät Ostwestfalen-Lippe der Uni Bielefeld werden im Oktober 60 Erstsemester ins Studium starten. Neben speziellen Veranstaltungen unter der Überschrift „geschlechtersensible Medizin“ soll das Thema ins allgemeine Lehrangebot einfließen. „Wir befinden uns in der Anfangsphase, aber ich gehe davon aus, dass viele Kolleginnen und Kollegen dem offen gegenüberstehen“, so Oertelt-Prigione. „Die Fakultät setzt Anreize, damit die Lehrenden Aspekte wie Gendermedizin, Digitalisierung und interprofessionelles Arbeiten berücksichtigen. Wer diese Themen aufgreift, kann zusätzliche Lehrzeit beanspruchen.“
Das Sternchen-Fach
Gendermedizin berücksichtigt, dass Menschen auf unterschiedliche Art von Erkrankungen betroffen sein können, abhängig von ihrem Geschlecht, ob männlich, weiblich oder divers. Das kann sowohl biologische Ursachen haben als auch soziale, zum Beispiel tief verinnerlichte Geschlechterrollen. Diese zeigen sich etwa dann, wenn männliche Erkrankte sehr spät ärztliche Hilfe suchen oder wenn ärztliches Personal Patientinnen weniger ernst nimmt als Patienten. Hier setzt die genderorientierte Lehre an: Sie will den Nachwuchs für die – gar nicht so kleinen – Unterschiede sensibilisieren.
Steigt das Lernpensum durch zusätzliche Inhalte?
Die Arbeitsgruppe „Geschlechtersensible Medizin“ plant unter anderem ein Blockseminar, das auch methodisch innovativ sein soll. Angedacht ist, dass Studierende in Kooperation mit Startups aus dem Gesundheitssektor konkrete Probleme rund um gendermedizinische IT-Anwendungen lösen. „An der Uni Bielefeld haben wir einen Modellstudiengang mit dem Ziel, vielfältige Kompetenzen zu vermitteln, die über das reine Fachwissen hinausgehen. Zum Beispiel die Schwerpunkte Teilhabe und interprofessionelles Arbeiten – auch das brauchen wir für die Versorgung der Zukunft“, erklärt die Professorin. Wo Genderthemen und weitere Kompetenzen in den Lehrplan gepackt werden, wächst da nicht zwangsläufig das Studienpensum? Oertelt-Prigione sieht diese Gefahr nicht: „Idealerweise wird es nicht per se mehr, sondern anders. Der Weg zum Lernziel verändert sich, was bedeutet, dass vor allem die Dozentinnen und Dozenten gefragt sind. Wir müssen unsere Lehrveranstaltungen anders aufbauen und sicherstellen, dass die Inhalte unter Berücksichtigung von geschlechtsbedingten Aspekten gelehrt werden. Da stehen wir mitten in einem Aushandlungsprozess.“
Für heutige Studierende stellt sich eher die Frage, ob sie sich Genderthemen in Eigeninitiative erarbeiten sollten, wenn ihnen diese Perspektive im Studium fehlt. Oertelt-Prigione rät nicht unbedingt nur zum Selbstlernen und hält es für sinnvoll, über den Tellerrand zu schauen: „Sehen Sie sich an der eigenen Hochschule um, meistens findet man an anderen Fakultäten Angebote zu Genderfragen. Behalten sie im Auge, ob es Online-Veranstaltungen und internationale Summer Schools zum Thema gibt “, empfiehlt die Professorin. Eine gute Anlaufstelle sei außerdem die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. „Sie können dort zum Beispiel Mentoring-Kontakte für Ihre spätere Weiterbildung knüpfen.“
Wissenschaftliche Grenzgängerin
Sabine Oertelt-Prigione (43) ist in ihrer Laufbahn schon viel herumgekommen, geografisch wie wissenschaftlich: Fachärztin in Mailand, Postdoc in Davis (USA), habilitiert in Berlin, Master-Absolventin in Public in Health in London, Professorin in Nijmegen und Bielefeld. Die Internistin verlegte sich früh auf Forschung und Lehre, mit besonderem Interesse für die sozialen Aspekte von Gesundheit. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschlechterforschung in der Medizin der Berliner Charité war sie daran beteiligt, Genderthemen in der Lehre zu etablieren. Neben Ihrer neuen Aufgabe als Professorin an der Universität Bielefeld setzt sie ihre Arbeit in den Niederlanden fort, am Lehrstuhl für Gender in Primary and Transmural Care am Radboud University Medical Center in Nijmegen.