Arbeiten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

  • Beruf & Karriere
  • 06.10.2021

Die Hektik somatischer Krankenhäuser ist nichts für dich? In der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat das Fachpersonal relativ viel Zeit für seine Schützlinge. Oberärztin Katharina Sauer gibt Einblicke in den Stationsalltag.

Etwa ein Jahr nach der ersten Corona-Welle in Deutschland machte sich in der LVR-Klinik Viersen eine andere Krankheitswelle bemerkbar: Deutlich mehr Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen warten dort aktuell auf einen Therapieplatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Seit Februar merken wir das extrem“, sagt Oberärztin Katharina Sauer. „Ich höre das auch von Kollegen an anderen Kliniken.“ Diese Not sei zum Teil eine Folge der Pandemiemaßnahmen, die einige Heranwachsende stark belasten. „Für junge Leute ist in den vergangenen Monaten die Alltagsstruktur weggefallen. Viele waren gelangweilt, einsam oder überfordert mit dem Homeschooling. Das wirkt sich unterschiedlich stark auf die Psyche aus. Einige fallen in ein anhaltendes Stimmungstief“, erklärt die Psychiaterin. Für erkrankte Teenager seien die Wartezeiten auf stationäre Therapieplätze aktuell doppelt so lang wie sonst – sechs Wochen oder mehr.

Bandbreite von Psychosomatik bis Therapie von Sexualstraftätern

Das Team versucht, dieses Defizit über Kooperationen mit anderen psychiatrischen Kliniken, Kinderkrankenhäusern und Kinderärzten in der Region aufzufangen. In normalen Zeiten ist dies kaum notwendig. Denn die LVR-Klinik Viersen verfügt über 125 vollstationäre und 62 teilstationäre Therapieplätze für junge Erkrankte und ist damit eine der größten Einrichtungen dieser Art in Deutschland. „Wir haben unterschiedliche Schwerpunkte, zum Beispiel für Psychosomatik, Suchterkrankungen oder für die Therapie junger Sexualstraftäter“, erläutert Katharina Sauer. Für Kinder unter zwölf Jahren gibt es eigene Stationen. Ein weiterer Bereich widmet sich verschiedenen Lern- und Verhaltensstörungen sowie psychischen Problemen, die mit einer geistigen Behinderung zusammenhängen.

Kein steriles Klinik-Flair

Auf Katharina Sauers Station finden bis zu zwölf Jugendliche Hilfe. Meist sind es Depressionen, Essstörungen oder Suchterkrankungen, die sie in die Klinik führen. Eine Therapie kann Wochen oder Monate dauern, im Durchschnitt ist es ein Vierteljahr – auch für die Kleinsten. Sämtliche Räume der Klinik haben große Fenster, sind gemütlich eingerichtet und erinnern ganz und gar nicht an ein Krankenhaus. Medizinische Geräte wie ein EKG oder einen Ultraschall sucht man hier vergebens. „Das ist ein großer Unterschied zur Erwachsenenpsychiatrie, wo somatische Erkrankungen eine größere Rolle spielen“, so die Oberärztin. „Unsere Patientinnen und Patienten sind in der Regel körperlich gesund, abgesehen von Mangelerscheinungen, wie sie bei Essstörungen vorkommen, oder Wunden durch Selbstverletzung.“
 

Foto: Joachim Gies

Katharina Sauer (38) studierte Humanmedizin an der Universität Köln und startete an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Köln Holweide in den Beruf. Dort absolvierte sie vier Jahre ihrer Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie arbeitete insbesondere mit jungen Menschen in akuten Krisensituationen, zum Beispiel bedingt durch Essstörungen oder Drogenkonsum. Das damals noch übliche Fremdjahr verbrachte Katharina Sauer in der Erwachsenenpsychiatrie im Alexianer Krankenhaus Köln-Porz. Nahtlos daran wechselte sie ins LVR-Klinikum Viersen: Seit 2015 ist die zweifache Mutter dort als Oberärztin tätig.

Bei allen Therapien steht die sprechende Medizin im Mittelpunkt. Genau aus diesem Grund entschied sich Katharina Sauer nach ihrem Studium für die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als Famulantin und PJ-lerin hatte sie festgestellt, dass ihr die Anamnesen am meisten Spaß machten. An eine Weiterbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie dachte sie da noch nicht, denn mit dem kleinen Fach gab es im Studium an der Universität Köln kaum Berührungspunkte. „Beim Lesen über das Thema merkte ich aber, dass mich der Bereich interessiert“, erinnert sie sich. Frisch approbiert entschied sie sich für eine Hospitation an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Köln Holweide. Dort gefiel es der jungen Ärztin. Und zufällig wurde gerade eine Assistenzstelle frei – es passte einfach von beiden Seiten.

Hier zählt die Team-Intelligenz

2015 wechselte Katharina Sauer auf ihre heutige Stelle als Oberärztin in Viersen. Auf ihrer Station trägt sie die Verantwortung für sämtliche Therapien und hat formell das letzte Wort, wenn schwierige Entscheidungen anstehen. Doch eigentlich geht es im Team sehr demokratisch zu. Fachleute verschiedener Professionen arbeiten eng zusammen: Medizin, Psychologie, Pflege, Pädagogik, Sozialarbeit, Ergo- und Kreativtherapie. Jeder Fall beginnt mit einer körperlichen Untersuchung und einer ausführlichen Anamnese, auch mit Hilfe der Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen: Gibt es Besonderheiten in der Familie? Wann fiel das psychische Problem zum ersten Mal auf? Um die Therapie zu planen, setzt sich dann das Team zusammen: Will man analytisch vorgehen oder lieber verhaltenstherapeutisch, sind Medikamente sinnvoll oder kann man darauf verzichten?

Arbeitstage sind gut planbar

„Ich finde die Arbeit in einem so großen Team super“, sagt Katharina Sauer. „Wir können uns fachlich immer rückversichern. Und es hilft sehr, dass man sich in belastenden Situationen direkt austauschen kann, zum Beispiel nach einem Patientengespräch über traumatische Erfahrungen.“ Ärztinnen und Ärzte haben relativ viel Zeit für ihre Schützlinge. Die Arbeitstage sind geprägt von Gesprächen mit den Erkrankten, deren Angehörigen und Absprachen im Team. „Wir können unseren Tag gut strukturieren. Zum Beispiel lege ich schwierige Gespräche, nach denen es einem Patienten vermutlich schlecht geht, gern auf den Vormittag, um später noch für ihn da zu sein“, erklärt die Psychiaterin. Bei der Arbeit trägt sie niemals einen weißen Kittel, sondern Jeans und Hoodie. Das wirkt weniger einschüchternd und distanziert. Sich nahbar und menschlich zu zeigen, mit Empathie auf einzelne Personen einzugehen, sei im Alltag somatischer Kliniken oft nicht realisierbar, so die Oberärztin. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gehöre es einfach dazu. „Diese Arbeit ist vielleicht nichts für jemanden, der chirurgisch-handwerklich arbeiten möchte oder den Thrill der TV-Medizin braucht, den Notfall mit Herzinfarkt. Aber wer die sprechende Medizin mag und neugierig ist auf die Geschichten von Menschen, kann sich hier gut entfalten.“

Empathie ist wichtig, aber auch professionelle Distanz

Dass man einen Draht zu Kindern und Jugendlichen haben muss und das nur schwer erlernen kann, hält Katharina Sauer für ein Klischee. „Dafür haben wir bestimmte Techniken, die wir Berufseinsteigern vermitteln, und vieles ergibt sich aus der Erfahrung. Es kommt vor allem darauf an, dass man einfühlsam und kommunikativ ist.“ Gerade empathischen Menschen fällt jedoch eines nicht so leicht: Die Leidensgeschichten der jungen Patientinnen und Patienten sind mitunter schwer zu verdauen. Man müsse lernen, sich davon nach Feierabend abzugrenzen, betont Katharina Sauer. Die Erfolgserlebnisse würden die Belastung mehr als ausgleichen: „Unsere Patienten sind jung, und mit unseren Therapien können wir vielen wirklich langfristig helfen.“