Zumutung und Zuversicht

Anne Nack (rechts) mit Chi Chak und Céline Kohll, zwei weiteren Austausch-Famulantinnen der LMU München
  • Studium & Lernen
  • 25.10.2018

„Bist du sicher, dass du jetzt dorthin willst?“ – Diese Frage hörte Anne Nack häufiger, bevor sie im April 2018 zu ihrer Pädiatrie-Famulatur in Äthiopien aufbrach. Familie und Freunde waren besorgt, weil es in dem ostafrikanischen Land seit Monaten Unruhen gab. 

Andere sagten, es sei alles halb so schlimm: Kommilitonen, die ein Semester zuvor dort gewesen waren, hatten sich sicher gefühlt. Zwei Wochen vor dem Start erst gab der afrikanische Chefarzt grünes Licht. Und so flog die 26-Jährige zusammen mit sieben weiteren Medizinstudierenden der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München nach Jimma, eine mittelgroße Stadt in West-Äthiopien. Mit der dortigen Universitätsklinik unterhält die LMU eine Ausbildungspartnerschaft. Besser hätte das Timing kaum sein können: Ein paar Tage zuvor war der autoritäre Regierungschef von seiner Partei entmachtet worden. An seine Stelle trat der Reformer Abiy Ahmed. Die Unruhen waren beendet; auf den Straßen, so Annes Eindruck, wirkten die Menschen heiter und entspannt.

Herzliche PJ-ler, förmliche Ärzte

Die Studenten konnten sich ganz auf ihr Praktikum konzentrieren. Anne Nack und drei andere Mitreisende waren die ersten Münchener Famulanten in der pädiatrischen Klinik. In der Gynäkologie arbeitet die LMU schon länger mit den äthiopischen Kollegen zusammen. Die Pädiatrie-Hospitanten brachten ihren Gastgebern Stethoskope mit, darunter ein spezielles pädiatrisches für den Chefarzt – eine Rarität in der Kinderklinik. „Wir wurden sehr freundlich aufgenommen, vor allem von den einheimischen PJ-lern“, erinnert sich Nack. „Die Ärzte waren etwas förmlicher.“
 

Über vier Wochen hinweg begleiteten die Deutschen ihre Ausbilder auf sechs Stationen: Unterernährung, Onkologie, Kardiologie, Neonatologie sowie zwei getrennte Bereiche für kritische und weniger kritische Infektionen. „Wir konnten dabei Erkrankungen studieren, die in Deutschland selten vorkommen“, sagt die Münchnerin. Mit Unterernährung, Parasiten und Tuberkulose müssen sich äthiopische Pädiater ständig auseinandersetzen. Schwere Infektionen sind so alltäglich und die Mittel so begrenzt, dass man von europäischen Standards weit entfernt sei, berichtet Nack: „Nicht jeder Durchfall wird im Labor untersucht. Und Tuberkulose-Patienten liegen ganz normal mit anderen Kranken in einem Raum.“

Mangelwirtschaft stumpft Mediziner ab

Bis zu acht Kinder sind in einem Klinikzimmer untergebracht, Babys teilweise zu zweit in einem Bett. Äthiopien baut sein Gesundheitssystem zwar nach Kräften aus, hält dabei aber mit der wachsenden Bevölkerung kaum Schritt (siehe Kasten). Patienten müssen in staatlichen Einrichtungen noch immer vieles selbst zahlen. Die Mangelwirtschaft mache auch etwas mit den Ärzten, so der Eindruck der Gaststudentin: „Ein Zehnjähriger mit Hirnhautentzündung und Endokarditis hat zum Beispiel während einer Visite etwa 40 Minuten lang gekrampft. Es war auf die Schnelle kein Diazepam aufzutreiben, aber der Oberarzt hat nichts weiter unternommen.“ Zusammen mit anderen Studenten organisierte Nack im Haus ein anderes Medikament für den Jungen. „Wir haben darüber später mit dem Oberarzt gesprochen. Es ist aber ein delikates Thema, da können wir uns als Famulanten nicht viel herausnehmen.“
 

Austausch am Stationsstützpunkt: Ärzte und Gast-Famulanten besprechen aktuelle Fälle. Mit am Tisch sitzen kleine Patienten, die im Arztzimmer malen dürfen.
Foto: privat

 

Politischer Neuanfang

Über 100 Millionen Menschen leben in Äthiopien, mehr als doppelt so viele wie vor 30 Jahren. Nur etwa jeder Zweite profitiert von moderner medizinischer Versorgung. In den letzten Jahren hat der Staat viel in Gesundheit investiert, unter anderem wurden 13 neue Medical Schools gegründet. Ein politischer Neuanfang weckt hohe Erwartungen: Im Frühjahr 2018 wechselte die Regierungspartei ihre Spitze aus, nach Jahren gewaltsamer Unruhen und Repression. Jetzt regiert der Reformer Abiy Ahmed, der offiziell für Versöhnung eintritt. Er ließ bereits tausende politische Gefangene frei und beendete den Krieg mit dem Nachbarn Eritrea.
 

Schwer zu verdauen war für die Studentin auch, dass manche Frühgeborenen von ihren Eltern im Krankenhaus zurückgelassen werden: „Da war ein Baby, das seit neun Monaten in der Neonatologie lag und keine Stimulation erhalten hat. Solche Schicksale werden hingenommen; es ist keiner da, der sich kümmern kann.“ Um wenigstens die medizinische Versorgung sicherzustellen und junge Ärzte im Land zu halten, legt der Staat die Hürden für eine Emigration hoch. Äthiopische Studenten erzählten Anne Nack, dass Ärzte erst nach abgeschlossener Weiterbildung ein Diplom von ihrer Universität erhalten und dafür auch noch hohe Gebühren bezahlen müssen. Frisch gebackene Absolventen können sich praktisch nicht ins Ausland bewerben.
 

Zur Station gehört dieser sogenannte Stimulationsraum, wo Kinder spielerische Therapien erhalten.
Foto: privat

 

Patienten verstehen die Ärzte nicht

Die schönsten Erinnerungen verbindet die Deutsche mit den Kindern im Krankenhaus. Sie waren ohne Scheu, obwohl die Gäste aus Europa sich nicht mit Worten verständigen konnten. Unter äthiopischen Medizinern ist Englisch die Verkehrssprache. Das kommt Ausländern entgegen, schließt jedoch Patienten aus, die nur eine der vielen Volkssprachen Äthiopiens beherrschen. „Es wird über ihre Köpfe hinweg gesprochen. Ich würde mich da nicht wohlfühlen“, meint Nack. Ob sie später Entwicklungsarbeit leisten möchte? „Im Prinzip ja. Aber ich würde mich gern auf Neurologie spezialisieren, und für dieses Fach besteht kaum Bedarf in Schwellenländern. Wenn es sich trotzdem ergibt, würde ich es gern machen.“