So wirkt der Placeboeffekt

Plazeboeffekt
  • Studium & Lernen
  • 08.05.2019

Als Michael Becker im Januar 2018 ein neues Produkt in den Onlineshop seiner Apotheke einstellt, ahnt er nicht, welchen Sturm er damit auslöst. Der dreifache Vater nennt sein Angebot Placebo-Globuli. Es sind Zuckerpillen ohne Wirkstoff, gedacht für Kinder, die neidisch auf ein Geschwisterchen sind, das gerade ein echtes Medikament einnehmen „darf“. Was dann geschieht, kommt für die Apotheke im badischen Sasbach einem medialen Tsunami gleich: Ein Nutzer teilt den Link des Onlineshops auf Twitter. Schnell entspinnt sich in den sozialen Medien eine Debatte, Becker wird als „Scharlatan“ beschimpft, der Scheinmedikamente verkauft.

Die „Deutsche Apotheker Zeitung“ berichtet, und das Telefon der Apotheke steht tagelang nicht still. Noch heute findet sich in ihren Google-Bewertungen der Eintrag: „verkauft Placebo-Globuli an unwissende Kunden“. Eine Behauptung, die Becker zurückweist: „Wir haben klar gesagt, dass in den Kügelchen kein Wirkstoff steckt.“ Abgesehen davon gebe es viele Apotheken, die Scheinmedikamente verkaufen.

Ungläubiges Staunen

Das Beispiel zeigt: Placebo ist immer noch ein Reizwort. Der lateinische Begriff heißt übersetzt „Ich werde gefallen“. In der Medizin steht er für eine Arznei oder eine Therapie, bei der allein die Erwartung, dass sie anschlägt, heilt. Zwar werden Placebo- und Noceboeffekte (lat.: „Ich werde schaden“) seit Jahrhunderten beschrieben und wirkstofffreie Fertigarzneien als so genannte P-Tabletten massenhaft verkauft – etwa an Patienten mit Medikamentenmissbrauch. Dennoch möchte kaum jemand freiwillig mit Zuckerpillen und guten Worten behandelt werden. Viele Patienten zweifeln, ob wirklich allein der Glaube hilft.

Auch für Mediziner klang es lange unglaublich, wie positive Gedanken die Heilung fördern können. So seltsam, dass der US-amerikanische Psychologie-Professor Dan Ariely sagt, der Placeboeffekt sei eine der faszinierendsten und am wenigsten genutzten Kräfte im Universum. Beispiele für die Wirkung dieser Kraft gibt es viele: So verabreichten im Zweiten Weltkrieg Chirurgen verwundeten Soldaten heimlich Kochsalzlösungen, weil ihnen das Morphin ausgegangen war, und linderten damit die Schmerzen. Allein die Spritze und die damit verbundene Hoffnung hatten offenbar die körpereigene Opioid-Ausschüttung angekurbelt.

 

Von der Macht der Erwartungen

Es ist kein Geheimnis - Erwartungen haben Einfluss darauf, wie wir unsere die Erfahrungen bewerten. Aber wie viel Kraft haben diese Erwartungen im Zusammenhang mit unseren Entscheidungen. Prof. Dan Ariely erforscht diese Macht - egal, ob es den Placeboeffekt betrifft oder das Bier nach Feierabend.

Nicht minder eindrucksvoll ist eine Studie des US-amerikanischen Orthopäden Bruce Moseley aus dem Jahr 2002. Der Chirurg hatte 180 Patienten mit Kniebeschwerden in drei Gruppen eingeteilt: Bei den ersten beiden nahm er einen operativen Eingriff vor, bei der dritten wurde lediglich die Haut am Knie etwas eingeritzt und Operationsgeräusche vom Band eingespielt. Mit verblüffendem Erfolg: Noch zwei Jahre später ging es den operierten Patienten nicht besser als jenen, die nur den Placeboeingriff über sich ergehen ließen.

Eine relativ neue Erkenntnis ist, dass Placeboeffekte auch die Wirkung von erprobten Schmerzmitteln steigern können. Nachweisen konnte das Ulrike Bingel, Professorin für Klinische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Essen. In einer Studie von 2011 verpasste sie Probanden kleine Hitzereize, um eine Schmerzempfindung zu erzeugen. Gleichzeitig verabreichte sie ihnen über einen Tropf das Schmerzmittel Remifentanil. Zunächst ließ sie das Medikament laufen, ohne dass die Versuchsteilnehmer davon wussten, dann verknüpft mit einer positiven Erwartung („Wir schalten den Tropf jetzt ein“) und schließlich mit einer negativen („Wir schalten den Tropf jetzt aus“). Egal, welche Ansage kam, immer tröpfelte das Schmerzmittel weiter, allerdings mit unterschiedlichem Effekt: Positive Erwartung verdoppelte die Wirkung, gegen negative Vorstellungen und die damit verbundene Angst vor stärkeren Schmerzen kam auch das Remifentanil nicht an.

Erwartungen managen

Die Ergebnisse der eigenen Forschung lässt die Leiterin der Schmerzambulanz am Universitätsklinikum Essen heute in ihre Arbeit mit Patienten einfließen. „Wir legen viel Wert darauf, Patienten die Sorgen zu nehmen und eine positive Erwartung bezüglich der Therapie zu entwickeln“, sagt Bingel. Wichtig sei etwa, Vorerfahrungen mit Schmerzmitteln zu erfragen. „50 Prozent der Wirkung gehen auf positive oder negative Vorerfahrungen und damit verbundene Erwartungen zurück.“

Tobias Esch, Professor für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke, fordert, die Erkenntnisse der Placeboforschung viel stärker in Kliniken, Praxen und Apotheken zu nutzen. „Wir wissen heute, dass unsere Erwartungen vielseitig auf unsere Gesundheit wirken“, sagt der Facharzt für Allgemeinmedizin und Neurowissenschaftler. Die Medizin müsse „ein ausgeklügeltes Erwartungsmanagement betreiben“, um solche Potenziale zu heben. Das bedeutet nicht, dass man Patienten Wirkungen vorgaukeln oder Nebenwirkungen verschweigen muss. Wie neuere Studien zeigen, wirken Placebos überraschenderweise auch dann, wenn man sie als solche benennt. „Die Selbstregulation scheint auch mit offenen Karten zu funktionieren“, kommentiert Esch die Ergebnisse.

Für Michael Becker hat die Placebowirkung viel mit Kommunikation zu tun. „Wenn Sie es gut machen, haben Sie bei jeder Medikamentenabgabe einen Placeboeffekt“, sagt der Apotheker. „Wenn ich einem Kunden versichere: ‚Das wird Ihnen bestimmt helfen‘ erziele ich eine ganz andere Wirkung, als wenn ich die Packung einfach über die Ladentheke reiche und ‚Fünf Euro‘ sage.“ Noch schlechter sei es, Patienten mit Informationen zu überfrachten. Das führe oft nicht zu Therapietreue, sondern zu Verunsicherung. Kein guter Gefühlszustand, um die Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Die Placebo-Globuli hat Becker heute immer noch in seinem Onlineshop. Auch sein Glaube an die Macht der Erwartung ist ungebrochen. Für eine Kundin, die überzeugt davon war, ohne eine abendliche Dosis Paracetamol nicht einschlafen zu können, stellte der Apotheker einmal eigens ein Placebo-Zäpfchen her. Die ältere Dame schläft seither tief und fest.