Über die Physik und Hiroshima zum Medizinstudium
Manchmal ist der Weg zum Medizinstudium lang. Naomi Kleine hat es über Japan zur Humanmedizin gezogen. Im Interview berichtet die 23-Jährige, weshalb sie eigentlich Physik studieren wollte und wieso dann doch alles ganz anders kam - Japan sei Dank!
Naomi, du hattest das Physik-Studium so gut wie in der Tasche. Wie ist es dazu gekommen, dass du heute im 6. Semester Medizin studierst?
Ich bin nach dem Abi über die ijgd für ein Jahr nach Hiroshima gegangen und habe dort in einem inklusiven Kindergarten gearbeitet. Während meiner Zeit dort hatte ich immer wieder Kontakt zu den betreuenden Ärzten. Ihre Art und Weise, wie zugewandt sie waren und hautnah mitzubekommen, wie ihr Alltag aussieht - das alles war sehr beeindruckend.
Stand der Entschluss, auf Medizin umzusatteln, schnell fest?
Nein, das war ein längerer Prozess. Die Naturwissenschaften faszinieren mich seit eh und je. Deshalb hatte ich mich eigentlich für Physik entschieden. In Japan habe ich dann aber nach und nach gemerkt, dass mir die Arbeit mit Menschen sehr am Herzen liegt. Und weil die Humanmedizin ja auch eine Naturwissenschaft ist, war das dann die perfekte Verbindung. Im Nachhinein muss ich sagen: Das Jahr in Hiroshima war das Beste, was mir passieren konnte. Ich hatte Zeit, mich noch einmal selbst zu finden. Plus: Ich hätte mir direkt nach dem Abi wahrscheinlich nicht zugetraut, eine solch hohe Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. Denn das bringt das Medizinstudium ja mit sich.
Hast du dir in Japan auch die Frage nach dem Sinn deiner künftigen Arbeit gestellt?
So konkret sicherlich nicht. Aber man kommt schon ins Grübeln. Ich war nach einem halben Jahr in Hiroshima auf einer zweiwöchigen Vortragsreise. Ein Fokus lag dabei auf dem Atombombenabwurf 1945 und wie die Ärzte damals gearbeitet haben. Das hat mir noch einmal vor Augen geführt, dass man selber Verantwortung übernehmen und mit seiner Arbeit viel Gutes erreichen kann.
Wie hast du dich vor Ort verständigt? Japanisch lernt man ja bekanntlich nicht von jetzt auf gleich.
Als Teenie habe ich gerne Mangas gelesen. Da stand der Entschluss schnell fest, dass ich Japanisch lernen möchte. Seit ich 16 war habe ich dann regelmäßig Unterricht genommen. Trotzdem habe ich in meinen ersten Wochen in Japan kaum ein Wort verstanden. Ich musste mich erstmal an den starken Dialekt gewöhnen. Positiv war aber, dass die Ärzte im Kindergarten z.B. alle sehr gut Deutsch konnten und sich sehr gefreut haben, ihre Deutschkenntnisse mal wieder auszuprobieren.
Wie unterscheidet sich denn die medizinische Versorgung in Japan von der in Deutschland?
Die Praxen sind zum Teil sehr viel rustikaler eingerichtet. Bei vielen Allgemeinmedizinern und Zahnärzten werden die Patienten noch mit einem Vorhang als Sichtschutz behandelt. Allerdings klappt das auch sehr gut. Die Leute hören einfach weg, wenn ein anderer Patient hinter dem Vorhang behandelt wird. Das ist in der Mentalität so verankert. Der technische Standard ist allerdings genauso hoch wie hier in Deutschland. Was sich eventuell noch unterscheidet, ist der Umgang mit der Naturheilkunde. Die meisten japanischen Ärzte sind diesbezüglich sehr viel aufgeschlossener. Die Denke dahinter ist: Wenn der Patient ein Naturheilkundeverfahren für sinnvoll erachtet und es ihm nicht schadet, dann sollte man ihn darin bestärken. Schließlich darf man die positiven Auswirkungen auf die Psyche nicht vergessen. Diesen Gedanken finde ich gut.
Was hast du aus Japan für deinen späteren Beruf als Medizinerin mitgenommen?
Die Kommunikation in Japan unterscheidet sich komplett von der Art, wie wir miteinander kommunizieren. Man ist z.B. sehr zurückhaltend mit der eigenen Meinung und weniger forsch. Stattdessen läuft sehr viel über non-verbale Kommunikation. In Japan habe ich deshalb gelernt, sehr stark darauf zu achten, wie das, was ich sage, bei meinem Gegenüber ankommt. Dafür habe ich heute ein sehr viel besseres Gespür. Und ich bin sicher, dass mir das in der Arzt-Patientenkommunikation weiterhelfen wird.
Zieht es dich zurück nach Japan?
Unbedingt! Ich plane gerade meine Famulatur in Hiroshima. Die Uniklinik dort ist unsere Partneruni. Also habe ich mich um eine der beiden Famulatur-Stellen beworben und hoffe jetzt auf die Zusage.
Wie bereitest du dich vor? Ein Patientengespräch auf Japanisch macht man ja nicht mal eben so…
Ich nehme immer noch privat Japanisch-Unterricht. Jetzt liegt der Fokus ganz klar auf medizinischem Fachvokabular. Und der Mann meiner Lehrerin ist Kardiologe. Er ist ein guter Sparringspartner.