Verhaltenstherapie in der Tiermedizin: Eine Spezialistin gibt Einblicke in ihre Arbeit
Bis zu 150 Kilometer weit reisen Tierbesitzer an, um sich in der Kleintierpraxis im Pfaffental im Saarland beraten zu lassen. Hier finden sie Hilfe, wenn die Katze nicht ins Klo macht, das Kaninchen überängstlich ist oder der Hund wie besessen bellt. Nicht jede Praxis bietet dieses therapeutische Spezialwissen. Doch eigentlich verdient das Thema mehr Beachtung, meint Veterinärin Anne Schwarz in unserem Interview.
ScrubsMag: Frau Schwarz, wie sind Sie zur Tierverhaltenstherapie gekommen?
Anne Schwarz: Das Thema hat mich schon vor meinem Studium interessiert. Mein Hund hatte damals ein Problemverhalten, gegen das kein Training half. So kam ich auf die verhaltensmedizinische Schiene. Wir haben mit einer spezialisierten Tierärztin an dem Problem gearbeitet, das hat mehrere Jahre gedauert. Im Studium habe ich mich weiter mit dem Thema beschäftigt und Fachliteratur gelesen. Und ich blieb in Kontakt mit der Veterinärin, die uns geholfen hat: Mit ihr habe ich verhaltensmedizinische Fälle durchgearbeitet und Konsultationen gemacht.
Heute arbeiten Sie selbst als Spezialistin in einer Praxis. Welchen Anteil haben verhaltenstherapeutische Aufgaben in Ihrem Alltag?
Klinische und verhaltenstherapeutische Aufgaben lassen sich kaum trennen. Das Thema Verhalten spielt allein schon deshalb eine Rolle, weil der Arztbesuch für die Tiere und Besitzer eine emotionale Ausnahmesituation ist. Die Tiere haben Angst, sind aggressiv, verlieren Urin auf dem Behandlungstisch. Jeder Veterinär muss die Stresssignale kennen und wissen, wie man sich Tieren nähert, damit man mit ihnen überhaupt arbeiten kann. Aber auch im Alltag zeigen die meisten Tiere mehr oder weniger ausgeprägte Verhaltensprobleme. Die Besitzer kommen oft wegen eines klinischen Problems zu uns, sprechen uns dann aber darauf an, dass ihr Hund schlecht an der Leine geht, nicht allein bleiben kann, Gegenstände zerbeißt oder solche Dinge.
Sind das nicht eher Fälle für die Hundeschule?
Teilweise ja, wir arbeiten auch sehr eng mit Hundeschulen in der Umgebung zusammen. Gute Hundeschulen bieten oft auch ein Medical Training an, und wir bilden selbst Hundetrainer aus. Häufig planen wir Therapien, und die Hundetrainer setzen sie dann mit den Besitzern um. Teils betreue ich die Patienten aber auch selbst. Das kommt auf das Problem an oder darauf, was den Besitzern lieber ist.
Anne Schwarz (36) studierte Veterinärmedizin an der Universität Gießen. 2011 startete sie in der Tierklinik Elversberg im Saarland in den Beruf und bildete sich weiter zur Tierärztin mit Zusatzbezeichnung Verhaltenstherapie. Seit 2018 arbeitet Anne Schwarz als angestellte Veterinärin in der Kleintierpraxis im Pfaffental.
Welche Probleme unterscheiden Sie?
Es gibt unerwünschtes Verhalten, welches unter Normalverhalten fällt, aber als störend empfunden wird. Dazu gehören zum Beispiel bei Hunden das Vokalisieren, also Bellen, Jaulen oder Winseln, zu gieriges Fressen, das Anknabbern von Stöcken, und bei Katzen das Markieren mit Urin. Echtes Problemverhalten ist beispielsweise abnormal-repetitives Verhalten, kurz ARV, starke Angstzustände oder Phobien – etwa vor Geräuschen, anderen Tieren oder Autos. In diesen Fällen sind die Besitzer nicht die Auslöser des Verhaltens, sie verstärken es aber oft durch falsche Reaktionen. Bei echtem Problemverhalten überweisen andere Tierärzte die Patienten direkt zu uns.
Was können Besitzer denn falsch machen?
Zum Beispiel bringen einige Hundeschulen den Besitzern leider immer noch sogenannte aversive Maßnahmen bei. Das sind negative Verstärkungen, zum Beispiel der Leinenruck oder das Werfen einer Rappeldose. Wir wissen aber, dass Hunde kognitiv und emotional sehr komplex funktionieren und man die Sozialisierung zwischen Mensch und Hund sorgfältiger gestalten muss.
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Das heißt, auch der Mensch lernt bei Ihnen, sich zu ändern?
Vor allem der Mensch. Man muss viel mit den Besitzern kommunizieren und humanpsychologisch gewandt sein. Wenn es um Verhaltensprobleme geht, ist jeder Fall individuell. Wir nehmen uns viel Zeit für die Anamnese, schicken im Voraus einen Fragebogen mit vielen Details zur Fütterung, Aktivitäten, Wohnsituation… Das Erstgespräch dauert mindestens eine Stunde. Teilweise stellt sich heraus: Es ist ein reines Managementproblem, zum Beispiel hat das Tier zu wenig Platz in seinem Revier oder es gibt nicht genug Katzentoiletten im Haus. Das Problem lässt sich oft schnell lösen. Andere Fälle sind komplexer und erfordern eine lange Therapie. Manche Tiere müssen wir medikamentös einstellen, um einen Zustand der Lern- beziehungsweise Trainierbarkeit zu erreichen. Wenn alles nichts hilft, müssen sich die Besitzer überlegen, ob das Tier bei ihnen wirklich gut aufgehoben ist. Unsere Aufgabe ist dann, den Besitzern ihre Versagensängste zu nehmen. Es ist auch völlig okay, nicht weiterzukommen und ein Tier abzugeben.
So einen Rat hört sicher niemand gern …
Verhaltenstherapie ist immer ein sensibles Thema. Viel hängt von der Compliance der Besitzer ab, also davon, wie sie bei der Therapie mitziehen. Im Tiermedizinstudium spielt Compliance keine sehr große Rolle, in der Spezialisierung ist sie ein riesiges Thema. Die Besitzer müssen viel von ihrem Privatleben preisgeben, und das führt oft zu Unverständnis. Andere kommen aber genau deshalb zu uns, sogar von weit her. Weil sie es schätzen, dass wir sie ernst nehmen und genau hinschauen.
Lizenz zum Tierflüstern
Um dich nach einem Studium der Veterinärmedizin auf Tierverhaltenstherapie zu spezialisieren, hast du zwei Optionen: eine Zusatzbezeichnung oder eine fachtierärztliche Weiterbildung. Die Qualifizierung dauert zwei bis drei Jahre und endet mit einer Prüfung bei der zuständigen Tierärztekammer. Für die Zusatzbezeichnung musst du themenbezogene Fortbildungen vorweisen, dazu eine größere Anzahl an Fallberichten. Wer eine fachtierärztliche Weiterbildung in Verhaltenskunde absolviert hat, kann die Zusatzbezeichnung „Tierverhaltenstherapie“ in der Regel früher erwerben. Mehr zum Thema findest du bei der Gesellschaft für Tierverhaltensmedizin und -therapie oder in der Weiterbildungsordnung der Tierärztekammer in deinem Bundesland.
Wie hoch ist der Bedarf?
Verhaltensprobleme sind, wie gesagt, in unserer Praxis ganz alltäglich. Aber im Moment rennt man uns sprichwörtlich die Bude ein. Wir haben viele „Corona-Hunde“ in Behandlung: Während der Pandemie haben sich viele Leute einen Hund zugelegt. Durch die Beschränkungen sind die Tiere wenig mit Artgenossen und anderen Menschen in Kontakt gekommen und reagieren jetzt bei Begegnungen sensibel.
Da Sie einen derartigen Ansturm erleben, gibt es also wenig Konkurrenz?
Es ist wirklich noch ein Nischenthema. Davon profitieren wir zwar als Praxis, aber mit Blick auf die Versorgung der Tiere ist es schade. Ich habe aber den Eindruck, dass sich die Nische langsam füllt und auch das Interesse bei den Studenten wächst.
Wie können sich Studierende an das Thema herantasten?
Schon innerhalb des Studiums gibt es Fortbildungsangebote in Form von Zusatzkursen. Das ist zum Teil Frontalunterricht, aber auch Praktisches wie Clickertraining oder Fallbesprechung. Es lohnt sich außerdem, sich bei spezialisierten Tierärzten umzuschauen und einen Mentor zu finden. Eine gute erste Anlaufstelle dafür ist zum die Gesellschaft für Tierverhaltensmedizin und -therapie.